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Santa Cruz, Bolivien

  • Bernd
  • 29. Apr. 2024
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Apr.


Die goldgelbe Kathedrale im nächtlichen Licht.

Der Internationale Flughafen von Asuncion ist wohltuend überschaubar. Das liebe ich. Vor dem Schalter sind keine Warteschlangen. Ich buchte den Flug mit LATAM, Asuncion-Santa Cruz-Asuncion. Der Schalter ist schnell gefunden. Freundlich erklärt mir die Frau hinter dem Pult, dass der Flug von einer anderen Fluggesellschaft durchgeführt wird. Ich müsse dort hin und blicke, ihrem ausgestreckten Finger folgend, irgendwo ins Leere.



Das alles geschieht auf Spanisch. Leider beherrsche ich es nur rudimentär, in Fragmenten. Dort angekommen zeige ich meine Buchungsbestätigung. „No-no, Check-in LATAM.“, erklärt mir eine Dame in meinem Alter, deren Englischkenntnisse meinen Spanischkenntnissen ähneln. Ich gehe also zurück zum Ausgangspunkt, um erneut abserviert zu werden. Wie sich herausstellt, führt Paranair den Flug durch, der Schalter ist aber noch unbesetzt. Was für eine Wohltat, dass ich keinen Koffer aufgeben muss!!!


Der Flieger von Asuncion nach Santa Cruz reaktiviert all meine Ängste vorm Fliegen.

Es geht mit einer CRJ 200 der Fluggesellschaft Paranair, in einem zweistrahliger Jet des kanadischen Unternehmen Bombardier Aerospace, in ca. 90 Minuten nach Santa Cruz. Der CRJ 200 ist lediglich 27 Meter lang, 6 Meter hoch und 21 Meter breit und hat eine Reichweite von etwas mehr als 3.000 Kilometer. Die Reisegeschwindigkeit beträgt 786 km/h, die Höchstgeschwindigkeit ist 860 km/h. Die Flughöhe wird mit bis zu 12.500 km angegeben.

Dieses Flugzeug kann 50 Passagiere befördern.


CRJ 200 von Lufthansa, Foto: E. Westendarp/Pixabay
CRJ 200 von Lufthansa, Foto: E. Westendarp/Pixabay

Das Boarding für ein paar Dutzend Passagiere beginnt. Auch hier keine Warteschlangen. Ich laufe einer jungen Frau hinterher, die sich auszukennen scheint. Sie geht einen Gang hinunter. Die Maschine steht nur hundert Meter entfernt. Mich trifft der Schlag. Das Fluggerät von Sao Paulo nach Foz de Iquacul war schon nicht groß. Aber dieses Flugzeug ist noch kleiner und erinnert mich an das Flugtaxi in Kenia, in dem ich kurz vor einem Kollaps stand.


Wir gehen eine sehr kurze Treppe hoch, im Innern beunruhigen mich die nur zwei Reihen mit jeweils zwei Sitzen links und rechts vom Gang. Das heißt, ich werde jede Luftbewegung spüren. Die sehr sympathische, freundlich lächelnde Stewardess sieht aus wie die Sängerin Paola. Nur in jung. Als sie ihr Airline-Ballett beginnt, wird ihr zuvor freundlich lächelndes Gesicht schlagartig sehr, sehr ernst. Fast theatralisch und voller Inbrunst zeigt sie die Notausgänge. Ich erwarte die Nationalhymne und muss mir ein Grinsen verkneifen.


Hola - Willkommen Bolivien


Flughafengebäude von Santa Cruz vor leicht bewölktem blauem Himmel.
Der Flughafen ist 15 km nördlich von Santa Cruz entfernt.

Auch der Flughafen Santa Cruz ist wohltuend überschaubar. Es müssen zwei Einreiseformulare ausgefüllt und abgegeben werden: An Station 1 wartet eine freundliche Dame und nimmt das Gesundheitsformular entgegen. Station 2 ist die eigentliche Einreise und Passkontrolle. Der Beamte stellt – wie in Südamerika üblich – einige Fragen auf Spanisch. Englisch Fehlanzeige. Wo ich in Bolivien wohne, will er wissen, wie das Hotel heißt, ob ich als Tourist einreise. Er macht ein Foto, stempelt den Pass ab und fertig. An Station 3 steht eine Frau und möchte das Formular über eventuell zu verzollende Güter und Devisen. Sie beanstandet die fehlende Passnummer, die ich hurtig eintrage. Die Hinweise über die Sicherheitslage haben mich ehrlich gesagt etwas beunruhigt.


Langsam schreite ich die Halle ab, spähe nach Draußen und entdecke die Taxis. Ein Fahrer spricht mich an, erkundigt sich, wo ich hinwolle. Zentrum? Das kostet 60 Bolivianos. Ich zeige ihm die Adresse und er schlägt 10 weitere drauf, weil es sich um ein Hotel und nicht um eine Privatadresse handle. Natürlich ist das glatt gelogen, viel zu hoch, wie immer. Aber ich habe keine Lust wegen 10 Euro, so viel ist das umgerechnet, zu diskutieren. In diesem Fall gilt: Leben und Leben lassen und er freut sich, wieder einen Deppen gefunden zu haben. Schließlich - nur das zählt auf Reisen - erreichen wir wohlbehalten das Hotel Senses Centro in der Rene Moreno 247.


Ein Kunstprojekt mit südamerikanischem Flair



Der Eingang zum Kunstprojekt führt durch einen kleinen schmalen Gang. Vor der Tür lehnt eine Tafel auf der Colors Coffee steht.

Das Kulturprojekt La Federal in der Ballivian 66, überrascht mich nicht weit von meinem Hotel. Es schlummert hinter einem unscheinbaren Eingang, der zu einem Innenhof mit Cafés, einem veganen Restaurant, Kunstobjekten und lokalen Geschäften führt.


Eine Oase inmitten der Stadt. Hier finde ich auch eine WLAN-Verbindung inmitten der aus dem 17. Jahrhundert gebauten Gebäude. Ein Ort der Inspiration, wie ich finde. Die Öffnungszeiten sind von 9 Uhr bis 22 Uhr.







Eines der Cafés. Drei Holzstühle, ein kleiner runder Tisch. An der Wand hängt ein Holzfahrrad. En es mejor, steht an der Wand.

Ich chatte in einem der kleinen Cafés bei einem Cappuccino mit Steffen, einem Freund, aus seinen Zivizeiten. Wir haben uns leider aus den Augen verloren. Das letzte Treffen war in irgendeinem Café in Heidelberg, zum gemeinsamen Frühstück. Damals hatte er eine mexikanische Partnerin.


Das ist inzwischen eine Ewigkeit her. Er ist überrascht, dass ich mich in Südamerika aufhalte. Fragt, warum ich ihn nicht in Mexiko besuchen komme. "Ich wusste gar nicht, dass du in Mexiko gelandet bist. Aber ich nehme dich beim Wort und besuche dich.", tippe ich in mein Smartphone ein. Jetzt hat er den Salat. Selber Schuld.





Heiliger Strohsack


An einem Seitenaltar hängt vor einem großen roten Vorhang  Jesus am Kreuz.


Auf meinem Spaziergang durch die Stadt komme ich an der festlich beleuchteten Kathedrale von Santa Cruz de la Sierra, auch Kathedralbasilika St. Lorenz genannt, vorbei. Sie wurde 1845 vom französischen Architekten Philippe Bertrés erbaut aber erst 1915 vom Italiener Victor Querezolo fertig gestellt.


Ich besuche die katholische Messe und suche mir - wegen meiner Kurzsichtigkeit - einen Platz in der vorderen Reihe. Schließlich möchte ich was sehen. Neben mir kniet eine streng dreinblickende mittelalte Frau. Ihre Brille verleiht ihr die Aura einer Eule. Die Reihe hinter mir ist fast voll. Vor mir knien eine Mutter mit ihrem pubertierenden, leicht übergewichtige Sohn. Beide erheben inbrünstig die Arme. Bei dem Jungen wirkt es aufgesetzt, hart an der Grenze zum Schwachsinn.


Ich habe keine Lust, mich hinzuknien, bin mehr der stille, introvertierte Beter. Und selbst wenn mir zum Hinknien zumute wäre; die Abstände zwischen den Bänken sind für mittelgroße Latinos konstruiert. Als 1.90 m großer Lulatsch würde ich mir die Beine brechen.



Die Plätze um die Kathedrale sind gut besucht und laden zum Verweilen ein.
Es gibt viel Leben auf den Plätzen.

Natürlich verstehe ich kein Wort der Predigt, bis auf das, was sich durch Wortfetzen ableiten lässt. Wie aus einem Maschinengewehr rattern die spanischen Wörter aus dem Mund des Priesters. Und trotzdem sind mir die Inhalte der weltweit immer gleichen Predigten bekannt.


Der Priester in seinem elfenbeinfarbenen Gewandt und dem riesigen golden Kreuz auf dem Rücken, verliest einige Namen, verneigt sich Richtung Altar und küsst seine Bibel. Dann erhebt er feierlich die Arme, die Gemeinde steht auf, bekreuzigt sich. Ich versuche es ihnen auf Druck der Eule (sie starrt mich an) nachzutun, verwende aber beim Bekreuzigen die falsche Hand.





Der Organist an seinem elektronischen Keyboard spielt einige melancholische Stücke, stoppt, die Gemeinde antwortet „Amen.“ Das wiederholen sie mehrfach: Priester – Organist – Gemeinde.



Bitte nicht zu tief bücken


Zwei Gemeindehelfer halten eine kurze Ansprache. Der Priester ruht sich aus. Nach den Ansprachen seiner Helfer, stellt er bedächtig einen Kelch auf den Altar und deckt ihn mit einem Tuch sorgsam ab. Ich schließe kurz die Augen, öffne sie wieder und bin zutiefst erschrocken.


Ein Bild des Schreckens präsentiert sich mir. Der Priester steht kopflos vor dem reich verzierten Altar. Ich blinzle unnatürlich oft, um meine Kontaktlinsen in die richtige Position zu bringen. Wo ist der Kopf des heiligen Mannes? Ist das ein Zeichen?


Nein, es war der Kelch, der seinen Kopf verdeckte. Als der Priester seine Arme senkt, erhält er sein Gesicht zurück. So müssen Geschichten über Wunder entstanden sein. Nach seiner Zaubernummer tritt ein knackig-muskulöser Messdiener hinter den Priester. Der dreht sich mit einer tiefen Verneigung zu ihm um. Für einen kurzen Augenblick halte ich den Atem an und hoffe inständig, dass er sich nicht zu tief verneigt. Jedenfalls nicht während der Messe, vor all den Kindern hier.


In der Kathedrale sieht man den Altar mit den reichen Verzierungen.
Die festliche Kathedrale von Innen.

Zwei weitere Helferinnen gehen mit ihren langen Stöcken, an denen Beutel befestigt sind, durch die Reihen. Als eine von den beiden zu mir kommt, werfe ich widerwillig eine Münze hinein. Dafür erhalte ich wenig später eine geschmacklose Oblate. Den Wein trinkt der Priester allein.


Am Ende der Zeremonie strömen die Gläubigen zu einer bemalten Holzfigur, umhüllt von einem weiße Gewand. Einige machen mit ihrem Handy Aufnahmen und ermuntern mich, es ihnen gleich zu tun, womit ich mir erneut böse Blicke der Eule neben mir einhandle. Manche berühren die weibliche Holzfigur mit einer ehrfürchtigen Verneigung. Höchstwahrscheinlich ist es die Mutter Gottes.





Die Gläubigen starren sie einfach nur an, sprechen stehend oder kniend ein stilles Gebet. Diese unreflektierte Hingabe an eine Holzfigur, die etwas verkörpert, dass sich mir nicht erschließen will, lösen bei mir ambivalente Gefühle aus, sie berühren und erschrecken mich gleichermaßen.


Es berührt mich, weil die Menschen nach einer allumfassenden Wahrheit verlangen, die ihnen Perspektive und Trost spendet, die Suche nach einer überirdische Macht, die alles für sie regelt und Besserung von was auch immer verspricht. Bei diesen Menschen ist es wohl der Mangel an materiellen Gütern.


Auf der anderen Seite halte ich wenig davon, alle persönlichen Sorgen und Nöte auf einen Heiligen oder eine Heilige zu projizieren, die sie von der Eigenverantwortung dieses irdischen Lebens freispricht. Diese Hingabe wurde durch die irdischen Repräsentanten der Kirchen, nicht nur der christlichen, in den zurückliegenden Jahrhunderten allzu oft auf das Brutalste missbraucht.


Der Platz vor der Kathedrale ist auf Weihnachten eingestimmt. Für ein paar Boliviano kann man sich mit dem Weihnachtsmann fotografieren lassen.
Plaza Metropolitana 24 de Septiembre.

Ich setze mich nach der Messe draußen auf die Stufen der Kathedrale und beobachte das rege Treiben auf der Plaza Metropolitana 24 de Septiembre. In ein paar Wochen ist Weihnachten, die Bäume sind mit Lichtern geschmückt. Familien, Paare, Straßenhändler, die umliegenden Cafes und ein paar Torusten erfüllen diesen Ort mit Leben. Es ist angenehm warm. Wer möchte, kann sich gegen eine geringe Gebühr mit dem Weihnachtsmann fotografieren lassen, die hier jemand geklont haben muss. Batman ist auch da.




Eine vierköpfige Musikgruppe versprüht mit ihren lauten, temperamentvollen Gesängen südamerikanische Lebensfreude. Ein Großvater tanzt dazu mit seiner vielleicht achtjährigen Enkeltochter, die es sichtlich genießt.



Vier Männer: Eine bolivianische Musikgruppe vor der Kathedrale bringt die Zuschauer in Stimmung.
Sehr dynamisch!


Zwei ungleiche Schmetterlinge


Nächtlich beleuchtetes Gebäude von Starbucks in Santa Cruz.
Starbucks, immer eine Option für Internet.

Draußen vor der Kathedrale lausche ich der Musik und genieße das pralle Leben als mich ein junger Mann anspricht. Er stellt sich mir als Juan vor, der hier in Santa Cruz im ersten Semester Biotechnologie studiert. Weil ich kein Internet habe und mir das Tippen zu umständlich erscheint, lade ich ihn zum Kaffee ins Starbucks ein. Es ist zu dieser Zeit wenig besucht, was ungewöhnlich ist.

Meistens bekommt man dort keinen Platz.




Ich habe bis heute nicht verstanden, warum die Menschen normalerweise dort Schlange stehen. Mit dem Kauf des begehrten Gebräus erhält man auch gleich einen Zugangscode für das Wifi. Jetzt ist ein Gespräch mit dem Übersetzer möglich.


Wir sprechen über das Reisen und das Bolivien die letzte Station meiner Tour sei. Er stellt sich das spannend und aufregend vor. Soweit möchte er auch einmal in seinem Leben kommen: Reisen, wohin man mag. Es gibt Menschen, zu denen man auf Anhieb einen Draht hat, wo die Chemie stimmt, unabhängig vom Alter.


Die mangelnden Sprachkenntnisse des jeweils anderen zwingen zu einfachen Sätzen, um Missverständnissen vorzubeugen. Mir scheint, als würde ihm ein Thema am Herzen liegen. Juan berichtet, dass er bei seiner Schwester lebt. Als Kind wurde er von anderen häufig gemobbt, weil er dick war und sich anders gekleidet habe, nicht die üblichen Sportklamotten.


Denkmal von José Ignacio Warnes, aufrecht stehend mit einem Säbel in der aufrecht erhobenen Hand.
Wann ist der Mann ein Mann?

Sein Stiefvater habe ihn häufig verprügelt. Er wäre kein richtiger Junge, weil er sich nicht für Fußball interessiere. Von seiner Mutter konnte er keine Hilfe erwarten. Sie schämte sich für ihn. Mit Schlägen, so Juan, versuchen die Eltern in Bolivien ihren Kindern Respekt beizubringen. Aber das würde sich bei der jüngeren Generation zum Glück gerade ändern.


Sein Stiefvater sei inzwischen gestorben. Hier bei seiner Schwester fühle er sich wohl, sie akzeptiere ihn. Juan erzählt mir - einem Fremden - dass er inzwischen Agnostiker und Asexuell sei. Sexualität interessiere ihn seit seinem sechszehnten Lebensjahr nicht mehr. Er wolle sich ganz auf sein Studium konzentrieren. Später möchte er Medikamente entwickeln, die den Menschen helfen.




Ich denke wieder an die Messe, die ich zuvor besucht habe. An die ganze verkorkste Moral der großen Weltreligionen, der Christen, der Moslems und der Juden. Seine Eltern, vermutlich selbst Opfer einer krankhaft überzogenen religiösen Erziehung, haben ganze Arbeit geleistet. Wie viel Angst und Gewalt braucht es, um einem jungen Menschen seine Sexualität abzuerziehen? Haben sie ihm jede Lust, jedes Begehren, jegliches Verlangen psychisch und physisch ausgeprügelt?


Juan fragt, wie man mit Homosexualität in Deutschland umgeht. So gut ich kann beantworte ich ihm die Situation in Deutschland, auch den historischen Hintergrund durch Kirche und Staat. Er sei froh, antwortet mir Juan, dass er kein sexuelles Verlangen mehr verspüre. Religion und Sexualität habe er abgelegt. Es fällt mir schwer, das zu glauben. Aber wer bin ich, das anzuzweifeln? Ob ich ihm eine kurze Geschichte erzählen dürfe, frage ich. Er stimmt zu. Die Geschichte geht so:


Zwei Schmetterlinge sitzen auf einer Blüte. Fragt der eine: "Warum genießt du nicht die Sonne, den Wind, den Duft der vielen Blumen um dich herum? Warum fliegst du nicht?" Daraufhin antwortet der andere Schmetterling leise: "Weil ich eine Raupe bin."





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