Gestrandet in Iskenderun
- Bernd
- 8. Mai 2024
- 7 Min. Lesezeit
Wir sind noch nicht fertig!
2013

Tarek und sein Bruder Yssuf (Namen wurden geändert) coachte ich während ihrer Hauptschulzeit, wenn sie nicht wieder einmal aus der Schule geflogen sind. Und das sind sie oft. Trotzdem ist es uns gelungen, einen Platz bei einem Bildungsträger zu organisieren, wo sie ihren Hauptschulabschluss machten. Tarek hatte sich sogar für eine weiterführende Schule qualifiziert, um den mittleren Bildungsabschluss zu machen. Trotzdem wurde die ganze Familie. bis auf Yssuf, 2013 in die Türkei abgeschoben. Zu meiner Überraschung hielt Tarek den Kontakt zu mir, wollte unbedingt wieder zurück nach Deutschland, wo er geboren wurde. Er sprach so gut wie kein Türkisch.
Das war - in sehr groben Zügen - der Hintergrund meiner Reise nach Iskenderun. Ich war neugierig, wie es Tarek und seiner Familie in der Türkei erging. Zusammen mit Yssuf, der inzwischen Volljährig war, buchten wir etwas mehr als ein Jahr später einen Flug nach Iskenderun am Mittelmeer, weit im Südosten der Türkei. Hier leben etwa 251 tausend Menschen.
Zu dieser Zeit bombte Putin zusammen mit Assad die nur 142 km entfernte Stadt Aleppo in Schutt und Asche. Dementsprechend viele syrische Flüchtlinge kamen in die Stadt. Sozialer Sprengstoff: Der ohnehin angespannte Arbeitsmarkt wurde nun durch die schlecht bezahlten Syrer noch kritischer.
Ich Deutscher nix verstehen
Auf dem Weg von meinem Hotel in der Innenstadt zu Tareks Familie komme ich mir wie ein handverlesener Tourist vor. Tourismus gibt es hier so gut wie nicht. Iskenderun ist Handelszentrum für Getreide, Tabak und Zitrusfrüchte und besitzt einen der wichtigsten Mittelmeerhäfen der Türkei. Was mich überrascht: Früher war die Stadt ein Hafen für Aleppo. Außerdem endet hier eine Ölpipeline aus dem Irak.
Ich bin eine kleine Sensation. Die Leute starren mich wohlwollend an. Trotz der Sprachschwierigkeiten laden mich die Händler in ihre Läden ein. Hosen. Ok, nur für mich viel zu klein. Er zeigt mit der flachen Hand nach Unten, etwa die Hälfte meiner Körpergröße. Natürlich verstehe ich, was er mir sagen möchte. Aber ich antworte so wie seine Landsleute in Deutschland, wenn sie sich nicht unterhalten wollen: "Almanca. Bilmiyorum. Tesekkürler." Deutscher. Weiß nicht. Danke. Er ist hartnäckig, setzt nach; aber nicht wie die Händler in Istanbul, die an dir zerren. Yussuf kommt mit seine Brüder und erlöst mich. Gemeinsam gehen wir in ein nahegelegenes kleines Restaurant. Ich habe eine Schwäche für die türkische Küche.

Alles verändert sich
Die Türkei ist in zwei Lagern geteilt: die AKP Erdogans und den Rest des politischen Spektrums, das keine faire Behandlung erwarten darf. Macht macht süchtig. Eine unachtsame Bemerkung über die Regierung, eine winzige Kritik, reicht für eine Gefängnisstrafe. Erdogan war der Hoffnungsträger der Türkei mit einer beispiellosen politischen Karriere. Er brachte das Land weit voran, sorgte für Wirtschaftswachstum und Wohlstand. Ich kenne Tarek, Yussuf und seine Familie seit Jahren. Die Eltern verehren Erdogan. Tarek ist da ungewöhnlich einsilbig, ja verglichen mit seinem Aktionismus, im Positiven wie im Negativen - geradezu eingeschüchtert.

Er besucht nun eine türkische Schule. Wenn möglich, möchte er sie mit dem Abitur abschließen. Wie immer er das auch bewerkstelligen will. In Deutschland schlug er öfter über die Strenge, milde ausgedrückt. "Du landest entweder im Knast oder Du wirst stinkreich!" war meine Prophezeiung für ihn. Jetzt ist er hier und es sieht alles andere als Gut für ihn aus. Er möchte wieder zurück nach Deutschland. Aber so hart es auch klingen mag, dafür gibt es zur Zeit nicht die geringste Chance. Er wird sich hier mit den Gegebenheiten arrangieren müssen.
Eine ungewisse Zukunft

Yussuf ist mit seinen Eltern beschäftigt. Tarek wartet am Kriegsdenkmal für Atatürk, am Iskenderun Anit Meydani, einem riesigen Platz am Meer. Er richtet mir Grüße und eine Einladung zum Abendessen zu seinen Eltern nach Hause ein. Tarek ist bedrückt. Ich spüre, dass ihm das Leben hier zu eng, zu kontrolliert, abläuft. Seine Eltern reden ihm ins Gewissen, seine älteren Brüder ebenso. Nicht, dass das in Deutschland anders war. Auch dort musste er regelmäßig die Moschee besuchen, beten, sagen, wohin er geht und abends pünktlich zu Hause sein. Aber in Deutschland war er seinen Eltern verbal und mental überlegen, kannte jede noch so abstruse Ausrede, um das Wort Lüge zu vermeiden. Hier war die Kontrolle feinmaschig: Familie, Freunde und Verwandte.
So gesehen nehmen Tarek und ich unterschiedliche Positionen ein. In Deutschland suchte er seinen Platz zwischen zwei Gesellschaftsformen. Zu Hause sind die Eltern gläubige Moslems und konservativ. Sein Vater sagte mir mal, er hatte nie das Gefühl gehabt, in Deutschland willkommen zu sein. Er kam mit Ende dreißig in das Land seiner Verheißung, wollte arbeiten, etwas aufbauen. Aber die Behörden ließen das nicht zu, verweigerten ihm die Arbeitserlaubnis. Über zwanzig Jahre lang lebte er von staatlichen Leistungen. Mit über Fünfzig sollte er schließlich arbeiten, um nicht abgeschoben zu werden. Zu spät für ihn.
Von toxischen Männer und Frauen

In sehr islamisch geprägten Ländern erwarten Mütter von ihren Männern und Söhnen Stärke und Männlichkeit. Eine Tatsache, deren Tragweite von radikalen Feministinnen häufig verkannt und ausgeblendet wird. Während meiner aktiven Zeit als Sozialarbeiter durfte ich mehrfach solchen Mutter-Sohn-Gesprächen beiwohnen: "Du bist ein Mädchen, ein Schlappschwanz, ein Schwanzlutscher!", sind noch die harmloseren rhetorischen Entgleisungen. Zu Hause regieren die Frauen.
Wer über Jahre in solch einem Klima aufwächst, assimiliert diese Werte, zerbricht daran oder lehnt sich dagegen auf. Den Mädchen ergeht es selten besser. Auch hier konfrontierte uns eine islamische Familie mit brutalen Auswüchsen einer maroden Moral: Mord an einer jungen Frau, vollstreckt durch Vater und Bruder, weil sie einen Christen liebte.

Sie kennen das, wenn Sie in den Medien von Ehrenmord lesen. Mitunter wird das Leben zum Kriminalroman.
Tarek hatte Glück. Seine Eltern sind sehr liebevoll. Allerdings können sie die Lebensrealitäten ihrer beiden Söhne, mit denen ich zu tun hatte, nur schlecht nachvollziehen. Die Jungs wuchsen in zwei Kulturen gleichzeitig auf: der türkischen und der deutschen. Tarek suchte Halt im Kontakt bei Rockern und Hooligans, zumeist Männer, die in ihrer Außenwirkung gern für Stärke und Kameradschaft stehen.
Da rollt was auf uns zu

Tareks Abschiebung, damit verbunden die Abhängigkeit von Familie und Angehörige sehe ich zunächst als Chance, sich neu zu positionieren. Hier kann er sich nicht so ohne Weiteres seiner Lebensrealität entziehen. Hier geht es um das Überleben. Tarek hört das nicht gern: "Das geht nur mit deiner Familie. Früher oder später wirst du dich mit ihr arrangieren, Mittel und Wege finden, deinen Lebensunterhalt zu verdienen."
Nicht zu Unrecht weist er auf die Lebensbedingungen in Iskenderun hin. Die Stadt wird überschwemmt von syrischen Flüchtlingen. Sie überschwemmen den Arbeitsmarkt. Die Türkei habe schon genug wirtschaftliche Probleme. Ohne es zu wissen, werde ich Zeuge einer beginnenden Völkerwanderung. Viele der Flüchtlinge können nicht mehr zurück, denn in Aleppo haben sie weniger als Nichts. Da braut sich weltweit etwas zusammen: Syrien, Afghanistan, Somalia, Eritrea. Sie alle möchten ein besseres Leben und nicht alle flüchten mit guten Absichten. Die meisten der Flüchtlinge wollen weiter in die EU.

Ein nicht unwesentlicher Teil bringt keine guten Voraussetzungen für ein Leben in der EU mit. Sie haben eine schlechte Schulbildung, keinen Berufsabschluss, sind mit unseren Werten überfordert oder lehnen sie - gelinde gesagt - religiös bedingt ab. Ein 14jähriger Kurde und ein Türke, die ich als Sozialarbeiter betreut habe, vertrauten sich mir an. beide kannten sich nicht, erzählten aber ähnliche Vorgehensweisen islamistischer Männer in Deutschland: Sie infiltrieren die Moscheen, suchen nach bedürftigen jungen Moslems, die unbegleitet nach Deutschland kamen oder massive Probleme zu Hause haben. Sie bieten ihre Hilfen an, geben ihnen das Gefühl von Zuwendung, Geborgenheit und Zugehörigkeit. Die Freizeitangebote sind sehr auf Action ausgerichtet. Sie lernen den Umgang mit Waffen, erhalten ein Training in Selbstverteidigung. Einmal kam jemand mit einem Karton voller Küken in die Moschee, sagte mir der Kurde. Die Jugendlichen sollten ihnen die Hälse durchschneiden.

Zweck der Übung: emotionale Abstumpfung. Das Motto: Wir sind loyal zu dir, beweise, das du auch loyal zu uns bist. Auf meine Frage, warum sie mir das erzählen, warum sie das abenteuerliche Freizeitangebot der Islamisten ablehnen, antworteten sie: "Weil du und dein Team uns Alternativen aufzeigst."
Alternative Realitäten

Die Einladung zum Abendessen bei Yussufs und Tareks Eltern kommt von Herzen. Es ist die sprichwörtlich berühmte türkische Gastfreundschaft an einem überreich gedeckten Tisch. Sie vermissen ein wenig Deutschland, die türkischen Freunde dort und das unbeschwerte Leben. Aber hier in der Türkei gehe es durch ihren Präsidenten aufwärts. Ein wahrer Glücksfall ist ihr erwachsener Sohn, der in Side einen Optikerladen betreibt. Nur Tarek mache ihnen noch etwas Sorgen, weil er sich in der Schule schlecht unterordnen könne. Die Lehrer unterrichten hier konsequenter als in Deutschland. Sie sind dankbar über meinen Besuch, sagen sie. Vielleicht kann ich Tarek etwas ins Gewissen reden. Auf mich würde er hören. Tarek schweigt. Für die einen ist die Familie ein Segen, die anderen drohen an ihr zu ersticken, denke ich mir. Kurz vor Mitternacht verabschiede ich mich satt und zufrieden mit einer extremen Knoblauchfahne.
Der Mann an der Rezeption verabschiedet mich mit einem Iyi geceler, gute Nacht, auf mein Zimmer. Ich erschrecke immer wieder über das pompöse Telefon auf meinem Nachttisch. Kommunikation hat zahlreiche Facetten, denke ich mir und schlafe zufrieden ein.

Wenn Flugzeuge Bomben scheißen
Ein paar Tage später verabschieden wir uns herzlich voneinander. Yussuf bleibt noch ein paar Tage bei der Familie, die er in Deutschland so sehr vermisst. Für mich geht es in Richtung Adana, wo ich noch ein paar Tage bleiben werde. Auch das ist reisen. Iskenderun ist kein typischer Touristenort. Hier gibt es - außer einer grandiosen Landschaft - keine touristischen Hotspots. Mir gefällt dieses typische untouristische Leben hier. Alle sind gut gelaunt. Nur Tarek wieder nicht. Der Abschied fällt ihm sichtlich schwer. Auf einmal ist alles so bedrohlich für ihn. Es gibt kein Herausreden mehr, keine Schuldzuweisungen, keine Ausflüchte, die an Lehrer, Freunde, Religion für das eigene Versagen gerichtet sind. Friss oder stirb. Ich sehe meistens einen Weg, eine Lösung, selten nur das Problem. Diesmal nicht.
Der Krieg gegen die eigene Bevölkerung des syrischen Machthabers Baschar al-Assad lässt mit Hilfe Putins Bomben auf die Stadt Aleppo scheißen. Anders kann man es nicht ausdrücken. Weltpolitik so nah. Vor der eigenen Haustür sozusagen. Das ist eine reale Bedrohung auch für die Menschen hier. Denn sie sehen tagtäglich Flüchtlinge ankommen. Vom Krieg gezeichnet, von den Bomben seelisch und körperlich entstellt.
Beim Abschied umarmen Tarek und ich uns. Und dann entlocke ich ihm doch noch ein Lächeln, indem ich sage: "Wir sind noch nicht fertig."

Nachtrag

Ich reiste ein Jahr später noch einmal zu Tarek. Er lebte bei Verwandten in Side, baggerte Touristen auf der Straße an, um sie in den Brillenladen seines Onkels zu lotsen. In Side bieten viele Optiker ihre Dienstleistungen an. Die Touristen schätzen die gute Qualität zu einem Bruchteil dessen, was sie in Deutschland zahlen müssten. Bei Frauen ließ Tarek nie etwas anbrennen. Dort lernte er seine Frau kennen. Ironie des Schicksals: eine Lehrerin. Somit konnte er zurück nach Deutschland, machte eine Ausbildung zum Heilpraktiker, dann Osteopath und arbeitet heute auf einer großen deutschen Ferieninsel.
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