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Sprachlos in Rio

  • Bernd
  • 21. Sept. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 7. März 2024

Vor meiner eigentlichen Reise, 2022, nach Paraguay, wo ich vor über 12 Jahren bei Miller Forest 10 Hektar Land zur Aufforstung gekauft habe, mache ich einen Zwischenstopp in Brasilien. Ich muss sowieso hier umsteigen, bevor es über Foz do Iguacu nach Paraguay geht. In Foz do Iguacu stoßen noch drei oder vier andere Investoren dazu. Ein paar Tage in der Metropole Rio können ja nicht schaden. Und akklimatisieren kann ich mich auch. Allerdings erspare ich mir den Stress mit dem Zuckerhut. Mir ist nicht nach Anstehen. Das Othon-Hotel residiert direkt an der Copacabana. Schnell einchecken, Mails checken. Alles ruhig, alles im grünen Bereich.


Christusstatur in Rio de Janeiro.
Rio empfängt seine Gäste mit offenen Armen.

Das schmeckt gar nicht mal so gut.


Der Speisesaal des 5-Sterne-Hotels an der Copacabana erinnert an eine Bahnhofshalle. Das laute Geplapper der Gäste hallt durch den Raum, quietschende, zuweilen schreiende, oftmals aber zu dicke Kinder und missgelauntes Personal, das Unmengen an Tellern, Tassen, Töpfe, Wurst- und Käseplatten an den viel zu eng stehenden Tischen vorbeibalancieren muss, laden nicht wirklich zu einem entspannten Tag ein. Vor dem Buffet bilden sich Warteschlangen, Kaffeetassen fehlen, die Saftgläser sind winzig und nötigen zum Trinken vor Ort, direkt am Zapfhahn der Saftbehälter, was die Laune der anderen Gäste nicht wirklich zum Guten wendet. Buffets haben zwei entscheidende Nachteile:


1. Die Gäste neigen dazu, noch mehr essen zu müssen. Schließlich haben sie dafür bezahlt. Reinhard Mey besingt das höchst amüsant in seiner Schlacht am kalten Buffet. Das Buffet führt damit zu einer verzerrten Wahrnehmung am eigenen Körper.


2. Schöpfkellen, Zangen, Wurst- und Käsegabeln sind, noch bevor Sie an der Reihe sind, bereits durch unzählige Hände gegangen und kleben nun spürbar unangenehm an ihren Fingern. Manche Gäste drücken auch die Brötchen oder Brote, um zu testen, ob sie auch frisch sind. Sie müssen also Ihre Hygienestandards partiell ausblenden.


Nachdem mein Rucksack einen freien Tisch (am Fenster!!!) ab sofort für alle anderen Gäste als reserviert gekennzeichnet hat, kann es losgehen. Ich tripple geduldig zur ersten Station, zu den Fruchtsäften, warte gespielt entspannt, bis die Dame vor mir auch die letzte Plastikflasche für den Strand aufgefüllt hat, nehme mir zwei Gläschen, befülle sie und kehre im Parcours der Hindernisse zurück zu meinem Tisch. Beim Abstellen der Gläser fällt mir auf, dass er wackelt, schon habe ich die erste Saftlache auf der Tischplatte. Ich schlängle mich zurück und organisiere mir alles, was ich zum Frühstücken brauche: etwas Wurst und Käse, Obst, Brötchen, ein paar Spezialitäten des Landes, die wie kleine Windbeutel aussehen aber angeblich mit Käse gefüllt sind und Rührei.


Zuletzt hole ich den Kaffee, balanciere zurück, Richtung Tisch, als mir ein Rentner mit Gehwagen in einem tollkühnen wie waghalsigen Manöver die Vorfahrt nimmt und mich abrupt stoppen lässt. Kaffee schwappt zum Glück nur auf die Untertasse. Stau. Im Schneckentempo und anmutigen Tippelschritten geht es im Gänsemarsch weiter. Die Umgehungsrouten sind verstopft, machen also auch keinen Sinn. Beim Zurückkriechen falle ich in eine Art Meditation, atme langsam aber tief ein und aus, entspanne, entschleunige mich. Ganz wichtig in solchen Situationen ist ein freundliches Gesicht zu machen. Generell ist das im Ausland immens wichtig. Dieser Spagat ist nicht einfach, zumal es zwischen einem freundlichen und einem dümmlich dreinblickenden Gesicht wie meines nur marginale, allenfalls homöopathisch messbare Unterschiede gibt. Mein Opa vor mir stockt erneut abrupt, und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob er noch lebt. Fünf Sekunden später ruckelt er weiter. Bereits kurze Zeit später stelle ich alle Teller ordnungsgemäß, samt Kaffeetasse mit Fußbad, auf den Tisch.


Lichtgesänge


Erst jetzt entdecke ich den grandiosen Blick auf die Copacabana. Da ist es wieder! Dieses Licht! Das Sonnenlicht am Meer hat etwas entspanntes, fast therapeutisches. Ganz gleich ob auf Capri, Kreta oder an einer beliebigen Küste sonst wo auf der Welt: Das Licht ist besonders intensiv und schön. Ich liebe es! Allein dieser grandiose Ausblick hier auf die Copacabana lässt mich die Schlacht am kalten Buffet vergessen. Selbst die Geräuschkulisse verstummt; zur Not könnte ich mir auch meine Hightech-Hörgeräte aus dem Ohr nehmen, ist aber überflüssig.


Blick auf die Copacabana von einem Hochhaus aus. Im Vordergrund die Straße, der Strand und das Meer.
Weltberühmt, die Copacabana.

Ohne nennenswerte Vorkommnisse arbeite ich mich an meinem Frühstück ab. Die mit Käse gefüllten Windbeutel schmecken nach nichts. Das Innere ist gallertartig. Mir fallen zwei Szenen aus Filmen ein. Den Titel des ersten weiß ich nicht mehr. Ich sah ihn als Jugendlicher. Irgendein Sciences fiction über das Schicksal der Menschen auf einem zunehmend lebensfeindlichen Planeten ohne Wälder, Blumen, Tiere und Gärten. Die alten Menschen darin können sich einschläfern lassen und sehen dabei, als Prämie sozusagen, einen Film über die Welt, wie sie einmal war: Sonnenuntergang am Meer, Wälder, Flüsse, Wiesen. Mit diesen Bildern schlummern sie vom Diesseits ins Jenseits.


Ähnlich verhält es sich beim zweiten Film: Cloud Atlas. Er spielt in verschiedenen Zeiten und erzählt, glaube ich, fünf Handlungsstränge. Genial gespielt und inszeniert. In einer fernen, hypermodernen Zukunft, in Neo Seoul, werden Frauen geklont und müssen als Dienerinnen, entrechtet, jeden Tag ihren Dienst in einer Bar verrichten. Nachts schlafen sie in ausfahrbaren Kammern, die an Kühlboxen der Forensik erinnern. Diesen Menschen wird ihre Freiheit und Entlassung ins Paradies versprochen, das sie aus der Sklaverei befreit, sofern sie in einer Art Lotterie gewinnen. Tatsächlich aber werden sie getötet.

Nun zu der Schnittstelle aus beiden Filmen: Die Menschen werden, was keiner weiß, nach ihrem Tod zu Nahrung verarbeitet und an die unterprivilegierte Bevölkerung verfüttert. Genau daran muss ich denken, als ich diese Balls mit diesem geschmacklosen gallertartigen Käse esse. Kann es sein, dass die vielen Menschen aus den Slums zu Cheeseballs verarbeitet und an Touristen verfüttert werden?


Flugangst kann mich nicht aufhalten



Blick auf den tiefblauen Atlantik. Hohe Wellen brechen am Strand. Über dem Meer fliegt ein winzig kleiner Rettungshubschrauber.
Sehen Sie den Hubschrauber?

Während ich an meinem Reisetagebuch schreibe, schweift mein Blick aus dem 25. Stock des Othon Hotels über die Küste hinaus aufs Meer. Ein Panoramafenster schenkt mir einen überwältigenden Blick auf den Strand der Copacabana und auf den Atlantik, der heute hohe Wellen schlägt. Nur lebensmüde baden an diesem Tag. Vor meinem Fenster fliegt ein Rettungshubschrauber. Er ist angesichts des scheinbar unendlichen Meeres lächerlich klein. Ob er nur aus Routine seine Runden dreht oder ob es einen Notruf gab, erschließt sich mir nicht. Mein Koffer ist noch nicht gepackt, trotzdem steigt Nervosität in mir auf. So wie immer vor einem Flug. All die unzähligen Flügen haben nie so etwas wie routinierte Gelassenheit bei mir entstehen lassen. Auch wenn jeder das ewige Mantra wiederholt, das Flugzeuge das sicherste Verkehrsmittel überhaupt sind. Ich hasse den Kontrollverlust, oben, in 10 tausend Metern Höhe. Extrem sind Flüge über Wasser jeglicher Art für mich. Neben Flugangst kämpfe ich dann noch gegen meine Tiefenangst an. Je älter ich werde, umso unheimlicher sind mir die Tiefen der Meere. Ich trinke in diesen Situationen schon gerne mal zwei Gläser Wein oder Bier. Das beruhigt. Etwas zumindest.


In Paraguay wird Spanisch gesprochen. Hoffentlich ist es das Ende meiner Sprachlosigkeit, weil ich wenigstens ein paar Brocken Spanisch spreche und verstehe. Selbst auf den brasilianischen Inlandsflughäfen wird so gut wie kaum Englisch gesprochen. Der Flug vom Domestic Airport Rio soll von Gate 1 mit der Airline LATAM starten, wird aber kurzfristig auf Gate 6 verlegt. Durchsage? Pustekuchen: Ich renne ständig von Anzeigetafel zu Anzeigetafel und komme mir dabei paranoid vor. Ja, da steht es: Abflug vom Gate 6. Schnell haste ich zur nächsten Toilette, entleere meine Blase, haste zurück zum Gate 6. Ein Blick zur Anzeigetafel: Schreck, lass nach und komm nicht wieder! Jetzt steht dort Gate 11. Wo bitte ist Gate 11?


Nach einstündigem Flug erfolgt die Zwischenlandung in Sao Paulo, Gepäck in Empfang nehmen, wieder einchecken, schnell was essen, aufs Klo gehen, danach zum Gate. Das Boarding verläuft diesmal reibungslos. Zum zweiten Mal erfreut mich heute eine Aufführung des Airline-Balletts, das auf diesem Inlandsflug aufgeführt wird: Zu der Audioansage vom Band stellt das Bordpersonal in fast synchronen Bewegungen die Sicherheitsrichtlinien vor: Sicherheitsgurte rasten klickend ein, Sauerstoffmasken fallen wie von Geisterhand vom Flugzeughimmel und werden graziös über Mund und Nase geführt. Es folgen elegante Handbewegungen, die zu den Sicherheitsausgängen weisen. Das erinnert an thailändische Tempeltänze. Der Höhepunkt ist die Schwimmweste unter den Sitzen, über den Kopf ziehen, Gurt schließen, hier bitte ziehen, aber erst, wenn sie draußen sind. Bei Kontakt mit Wasser leuchten meditative Lämpchen auf und helfen den Rettungskräften im endlosen Ozean, Sie zu finden. So jedenfalls die Theorie. Ich fliege leider nicht Business bei Kurzstrecken. Sonst hätte ich mir bereits das vierte Bier hinter die Binde gekippt. Stattdessen reicht uns die Stewards ein Tütchen geschmacksneutraler ungewürzter Chips, dazu gibt es stilles Wasser. Ich unterdrücke ein manischen Lachen.


Sonnenuntergang an der Copa Cabana, violett blauer Himmel, am Horizont der orangerote Sonnenuntergang.
Lichtgesänge

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